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1.4. Hör-Erwartungen

Beim Monitoring geht es um zweierlei: um die Entdeckung von Versprechern und darum, zu prüfen, ob die gemachte Äußerung der Aussageabsicht entspricht oder man sich unklar oder missverständlich ausgedrückt hat. Das Erkennen von Sprechfehlern geschieht durch das Vergleichen der aktuell produzierten Sprecheinheit (meist eines Wortes oder einer Phrase) mit einer Hör-Erwartung (Vorhersage) von deren korrekter Form.

Wie werden diese Erwartungen erzeugt? Willem Levelt glaubte, dass ein phonetischer Plan die Grundlage dafür sei [1]. Aber ist die Kenntnis eines inneren Sprechplanes für das Fehlererkennung überhaupt notwendig? Beim Hören auf die Rede einer anderen Person fallen uns Sprechfehler sofort auf, ohne das wir den inneren Plan des Sprechers kennen.

EEG-Untersuchungen haben gezeigt, dass syntaktische Fehler (Fehler in der Satzstruktur, z.B. „Hans Milch trinkt“) im Gehirn eines Zuhörers nach ca. 120 ms eine Reaktion auslösen, Das Erkennen semantischer Fehler (z.B. „Hans trinkt Holz“) braucht etwa s länger, ca. 400 ms [3]. Offenbar können wir auf der Basis des bisher Gehörten innerhalb sehr kurzer Zeit eine Erwartung (Vorhersage) von dem bilden, was der Sprecher im nächsten Moment sagen wird und wie es sich anhören sollte.

Wie kann ein Zuhörer diese Erwartung erzeugen? Er weiß aus eigener Erfahrung intuitiv, wie durch die bereits gesprochenen Wörter eines Satzes die Wahlmöglichkeiten des Sprechers eingeschränkt werden: Je mehr Wörter eines Satzes gesprochen sind, um so weniger semantische und syntaktische Wahlmöglichkeiten verbleiben für die Vollendung des Satzes. Das erleichtert es dem Zuhörer, Erwartungen zu bilden und Wahrnehmungen, die diesen Erwartungen widersprechen, sofort als potentielle Fehler zu identifizieren.

Das bereits Gehörte und unser Wissen über die Sprache ermöglichen es also einem Zuhörer, Erwartungen zu bilden von dem, was ein Sprecher als nächstes sagen wird. Das gilt nicht nur für die Satz-, sondern auch für die Wortstruktur – also nicht nur für die Reihenfolge der Wörter in Sätzen, sondern auch für die Reihenfolge der Laute in Wörtern und Phrasen. Vertraute Wörter erkennen wir oft nach dem Hören der ersten drei oder vier Laute, und dann können wir die restliche Lautfolge vorhersagen. Deshalb riechten sowohl Erwachsene als auch Vorschulkinder beim Hören auf Sprache ihre Aufmerksamkeit vorrangig auf die Anfangsbereiche der Wörter richten [4].

Das Analyse-druch-Synthese-Modell

Schon in den 1960er Jahren haben Moris Halle und Ken Stevens in einem Modell beschrieben, wie das Gehirn – in einem Wechselspiel aus Analyse und Synthese – nach wenigen wahrgenommenen Lauten ein Wort „erraten“ kann: Eine erste vage Voraussage wird in mehreren Schritten mit weiteren, inzwischen wahrgenommenen Lauten und/oder mit Kontextinformationen verglichen und auf diese Weise aktualisiert und präzisiert [5].

Das Hören selbst und das implizite Wissen über die Sprache ermöglichen also die Bildung jener Erwartungen, die es einem Zuhörer erlauben, Fehler in der Sprache anderer schnell zu bemerken. Nehmen wir nun, in Übereinstimmung mit Levelt [1] an, dass die Mechanismen, durch die wir beim Zuhören die Sprechfehler anderer zu bemerken, auch bei der Kontrolle des eigenen Sprechens wirksam sind. Dann ergibt sich eine vielleicht überraschende These: Beide Komponenten, die für das Monitoring notwendig sind – die Erwartungen der korrekten Formen und die Wahrnehmung der produzierten Formen – basieren auf der Hör-Rückmeldung.

Diese Behauptung mutet erst einmal befremdlich an, denn sie widerspricht der verbreiteten Vorstellung, dass dem Sprechen das Denken vorausgeht. Aber kennen wir beim spontanen Sprechen wirklich unsere Sätze, bevor wie sie ausgesprochen haben? Wenn das so wäre, wie ist es dann beim stillen Denken, das ja – siehe den nächsten Abschnitt – nichts anderes als ein inneres Sprechen mit uns selbst ist? Wollen wir behaupten, dass wir unsere Gedanken schon kennen, ehe wir sie denken, also innerlich wahrnehmen? Wohl kaum.

Dem spontanen Sprechen geht kein (bewusstes) Denken des zu sprechenden Satzes voraus (mehr...). Spontanes Sprechen ist selbst „lautes Denken“ – ein unmittelbares Laut-Machen der Gedanken. Was uns vorher bewusst ist, ist der Grund, der Anlass, das Anliegen, um das es geht. Beim lauten Sprechen wie auch beim Denken nehmen wir unsere formulierten Gedanken wahr, indem wir sie hören – entweder innerlich beim Denken (siehe den nächsten Abschnitt) oder äußerlich beim lauten Sprechen.

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Fußnoten

Denken

Denken ist ein bewusster Vorgang, meist ein inneres Sprechen mit sich selbst, manchmal auch mit vorgestellten Gesprächspartnern. Auch nichtsprachliche visuelle oder akustische Vorstellungen (Erinnerungen oder Ideen) werden im weiteren Sinne als Denken bezeichnet. All dies geschieht bewusst. Auch Gefühle, wie etwa Schmerzen, Furcht oder freudige Erwartung, sind uns bewusst. Doch der weitaus größte Teil dessen, was im Gehirn geschieht, ist dem Bewusstsein nicht zugänglich. Diese Vorgänge nennen wir Gehirnprozesse. Gewiss gehen dem spontanen Sprechen Gehirnprozesse voraus, die uns nicht bewusst werden. Es ist aber falsch, oder zumindest nicht sinnvoll, diese unbewussten Prozesse als Denken zu bezeichnen. (zurück)
 

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Verweise

  1. Levelt (1995)
  2. siehe z.B. Beal et al. (2010), Brown et al. (2005)
  3. Friederici (1999)
  4. Astheimer & Sanders (2009, 2012)
  5. Halle & Stevens (1959), Aktualisierung durch Poeppel & Monahan (2010)

 

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