Seit meinem dritten oder vierten Lebensjahr – genau weiß ich es nicht – bin ich ein Stotterer. Ich habe einen Sprachheil-Kindergarten und danach acht Jahre lang die Sprachheilschule in Magdeburg besucht. Das Stottern ist dadurch nicht verschwunden, aber immerhin war ich als junger Erwachsener weitgehend frei von Begleitsymptomen, besonders solchen seelischer Art. Das Sprechen im Alltag (Einkaufen und dergleichen) funktionierte ziemlich problemlos, doch beim Reden vor größeren Gruppen oder bei Diskussionen im Freundeskreis hatte ich oft mit Blocks zu kämpfen.
Nach dem Abitur wählte ich einen Beruf, bei dem man nicht viel reden muss: Ich studierte Kunst und zog mich auf ein abgelegenes Hundert-Seelen-Dorf im nördlichen Harzvorland zurück, wo ich mich als Holzschnitzer, Aquarellmaler, Spielzeugmacher, Musikant, und wenn das Geld nicht reichte, auch als Landarbeiter und Totengräber betätigte. Mit Anfang vierzig verschlug es mich dann in die Altmark im Nordwesten von Sachsen-Anhalt, wo ich mich zeitweise an einem ökologischen Dorfprojekt beteiligte, in einem Freilichtmuseum arbeitete und in verschiedenen Hofgemeinschaften lebte. Mein Stottern veränderte sich in all den Jahren kaum.
Neben den erwähnten praktischen Tätigkeiten habe ich mich immer für Philosophie interessiert, unter anderem für die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit – vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse der Hirnforscher, von denen einige die Willensfreiheit für eine pure Illusion halten. Die Grundfrage dabei ist letztlich die: Wenn wir annehmen, dass es in unseren Gehirnen mit rechten Dingen zugeht – wenn wir also das Walten übernatürlicher Kräfte ausschließen – dann hat jedes Ereignis im Gehirn natürliche Ursachen. Und ein konkretes Bündel von Ursachen hat ein ganz bestimmte Folgen – es kann seine Folgen nicht frei wählen. Dieses eindeutige Vorherbestimmtsein der natürlichen Ereignisse durch Ursachen nennt man Determinismus. Wenn es in unseren Gehirnen deterministisch zugeht, dann kann es Willensfreiheit nicht geben – so scheint es jedenfalls.
Mit dieser spannenden Frage also hatte ich mich in den 2010er Jahren beschäftigt. Es würde zu weit führen, wollte ich hier den Weg beschreiben, wie ich von dort zu dem Gedanken gelangt bin, dass es für die automatische Steuerung des Sprechens notwendig ist, die gesprochenen Wörter zu hören und vorübergehend im Arbeitsgedächtnis zu bewahren. Von da war es aber nicht weit bis zu der Idee, dass bei Stotterern diese Funktion gestört sein könnte – jedenfalls war es nicht weit für jemanden, der selbst stotterte und der wusste, dass die Ursachen dieser Störung noch unklar sind,
Nachdem mir die Idee, dass Stotterer ihre Sprache nicht ausreichend hören, quasi zufällig und nebenbei gekommen war, lag nun nichts näher, als die Idee praktisch zu testen: Ich redete laut und hörte dabei aufmerksam auf meine Worte. Das ERgebnis war eindeutig: Ich hatte das sichere Gefühl, dass ich unter dieser Bedingung auf keinen Fall stottern würde. Ich muss hier erwähnen, dass ich allein lebe, häufig „laut denke“. Dabei trat durchaus gelegentlich Stottern auf, und das ist auch jetzt noch so, wenn ich nicht auf meine Stimme höre, sondern mit meiner Aufmerksamkeit ganz beim Inhalt der Gedanken bin.
In der Folgezeit testete ich meine neue Sprechmethode auch beim Reden mit anderen Leuten. Es trat nicht nur kein Stottern auf – ich hatte zudem immer wieder dasselbe sichere Sprechgefühl. In dem Glauben etwas Neues gefunden zu haben, suchte ich 2011 Kontakt zu anderen Stotterern und stellte meine Idee im (damals noch existierenden) Internetforum der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe vor. Ich wurde schnell darüber aufgeklärt, dass ich nichts Neues gefunden hatte – ein Breslauer Apotheker namens Oskar Hausdörfer hatte schon rund 100 Jahre früher dieselbe Entdeckung gemacht.
Allerdings war Hausdörfer weit davon entfernt, seine Entdeckung wissenschaftlich erklären zu können. Mein Interesse war geweckt, ich begann, mich in das Thema einzulesen und meine Hypothese – dass Stottern durch zu geringe Aufmerksamieit auf die Hör-Rückmeldung des Sprechens entsteht – mit einer Fülle empirischer Daten abzugleichen und allmählich zu einer Theorie auszubauen.
Dabei war eine Reihe von Schwierigkeiten und Irrtümern zu überwinden. So hatte ich anfangs geglaubt, dass das Hören der Wortenden den Start des nächsten Wortes direkt auslösen würde (was aber aufgrund der Reaktionszeit unmöglich ist). Eine Schwierigkeit war, Stottern am Sprechbeginn zu erklären, wo es noch nichts zu hören gibt. Inzwischen sind diese Probleme behoben, und alle neuen Resultate der empirischen Forschung sind mit meiner Theorie vereinbar oder stützen sie sogar.
Wie aus der Kurzbiografie ersichtlich, bin ich weder Logopäde noch Linguist, Psychologe oder Neurologe. Meine Kenntnisse auf all diesen Fachgebieten sind gering, verglichen mit jemandem, der das ordentlich studiert hat und damit sein Brot verdient. Aber ich glaube, ich weiß aus diesen Fachgebieten das, was erforderlich ist für die beschränkte Aufgabe, die ich mir vorgenommen habe: die vielen empirischen Puzzleteile zum Thema Stottern, über die wir dank jahrzehntelanger Forschung heute verfügen, zu einem Bild zusammenzusetzen.
Dieses Bild wird vielleicht immer nur eins von mehreren möglichen sein, und es ist nur ein Gedankenkonstrukt. Doch wir brauchen die Diskussion über solche Konstrukte. Die empirische Forschung kann Zusammenhänge (Korrelation) feststellen; Aussagen über Ursachen sind dagegen immer theoretische Aussagen. Wenn man die Ursachen des Stotterns verstehen will, kommt man um Theorie nicht herum.
Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, dass ich inzwischen (2024) offiziell blind bin (sehbehindert war ich immer schon). Für die Arbeit an dieser Website bedeutet das, dass ich manchmal Tippfehler übersehe – besonders da, wo ich sie am wenigsten vermute, z.B. in Überschriften. Ich bitte dafür um Nachsicht und bin für alle Hinweise auf Fehler dankbar. Auch wer Fragen oder Anregungen hat, kann mich gern kontaktieren.
Torsten Hesse
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