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2. 2. Der Einfluss der Atmung

Vorbemerkung August 2020

Der nachfolgende Abschnitt wurde vor ca. 6 Jahren geschrieben in dem Bemühen, Stottersymptome am Sprechbeginn zu erklären. Es ist klar, dass solche Symptome nicht durch Fehler in der Verarbeitung der Hör-Rückmeldung verursacht sein können. Deshalb war ich gezwungen, eine zweite Ursache anzunehmen: ein Problem mit der sensorischen Rückmeldung der Atmung. Inzwischen gibt es neue Erkenntnisse, durch die meine damaligen Überlegungen zwar nicht falsch werden (deshalb lösche ich den alten Text nicht), aber die Sache erscheint doch in einem anderen Licht.

Ludo Max und Ayojub Daliri [10] haben festgestellt, dass sich bei Normalsprechern vor dem Beginn das Sprechens die Hör-Wahrnehmung umstellt, und zwar so, dass (wie die Forscher selbst vermuten) die Hör-Rückmeldung der Sprache besser verarbeitet wird. Diese Einstellung des Hörens auf das Sprechen wurde bei Stotterern nicht gefunden.

Außerdem haben Martin Sommer und sein Team [11] herausgefunden, dass sich bei Normalsprechern die Erregbarkeit des Motorkortex vor dem Sprechbeginn erhöht (dies erleichtert den Start der Sprechbewegungen). Auch dieser Effekt fehlte bei Stotterern. Man kann sich leicht denken, dass die Einstellung sowohl des Hörens als auch der Motorik auf den Sprechbeginn Teilaspekte einer generellen Vorbereitung des Gehirns auf das Sprechen sind. Die an der Sprachproduktion beteiligten neuronalen Netzwerke müssen sich vorher „zusammenschalten“ und aufeinander abstimmen. Dabei dürfte die Einstellung des Hörens auf die Verarbeitung der Sprach-Rückmeldung eine zentrale Rolle spielen, und zwar deshalb, weil damit das unmittelbare, elementare sensorische Ziel der Aktion definiert wird: Es soll etwas zu hören sein, nämlich die eigene Stimme.

Die Initiierung einer willentlichen motorischen Aktion ist naturgemäß damit verknüpft, dass die Erreichung des unmittelbaren sensorischen Zieles erwartet wird: Wenn ich nach der Tasse greife, erwarte ich, im nächsten Moment den Henkel zwischen meinen Fingern zu spüren – mein Wahrnehmungsapparat wird automatisch auf diese Erwartung eingestellt. Wenn ich beginne zu sprechen, erwarte ich, dass meine Stimme zu hören ist. Die Einstellung der Hörwahrnehmung auf das Sprechen, die Max und Daliri bei Normalsprechern gefunden haben, kann man deshalb interpretieren als die (automatische, spontane) Erwartung, die eigene Stimme zu hören.

Das Hören der eigenen Stimme ist das unmittelbare, elementare sensorische Ziel des Sprechaktes – dazu kommen dann „höhere“ Ziele wie z.B. einen Gedanken mitzuteilen. Ähnlich beim Greifen nach der Tasse: das „Nahziel“ der Bewegung ist, die Tasse mit den Fingern zu spüren. Dazu kommen „fernere“ Ziele: die Tasse zum Mund führen, daraus trinken... Die Erwartung des jeweiligen sensorischen Nahzieles dürfte wichtig sein für Vorbereitung des Gehirns auf die Bewegung, für die Bereitschaft des Gehirns, die Bewegung zu starten, Bei Stotterern scheint am Sprechbeginn die Erwartung zu fehlen, die eigene Stimme zu hören – die Hör-Wahrnehmung stellt sich jedenfalls nicht darauf ein. Deshalb ist das Gehirn nicht bereit für den Sprechbeginn, und es kommt zur Blockade.

Es ist also nicht mehr notwendig, Stottern am Sprechbeginn mit einem Problem bei der sensorischen Rückmeldung der Atmung zu erklären – man kann statt dessen einfach sagen: Weil sich das Gehirn nicht auf das Sprechen eingestellt hat, kommt es zu Blockierungen beim Sprechstart. Allerdings kling eine solche Erklärung sehr allgemein, und es ist immerhin möglich, dass es gerade die Koordination der Atem-Steuerung mit der Sprechsteuerung ist, die nicht erfolgt, sodass das System nicht auf die Verarbeitung der Atemrückmeldung eingestellt wird. Deshalb lösche ich den nachfolgenden Abschnitt vorläufig nicht, auch wenn er dank der neuen Erkenntnisse für meine Stottertheorie nicht mehr zwingend erforderlich ist.

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Ursprünglicher Text

Bevor ich zu den Ursachen der Störung der auditiven Rückmeldung komme, soll es um ein anderes Problem gehen, dessen Behandlung uns der Beantwortung der Frage nach den Ursachen aber bereits näher bringen wird. Die im letzten Abschnitt vorgeschlagene Definition des Stotterns hat eine inakzeptable Einschränkung: Da Stottern definiert wurde als verursacht durch Störungen der auditiven Rückmeldung, sind Stotterereignisse außerhalb von gebundener Sprache nicht erfasst, z.B. Stottern auf einem isolierten Wort oder am Beginn einer Äußerung. Solche Symptome sind bei erwachsenen Stotterern eher selten, bei stotternden Vorschulkindern sind sie jedoch häufig zu beobachten [1]. Solche Stotterereignisse lassen sich erklären, wenn wir die Atmung in unsere Überlegungen mit einbeziehen.

Abbildung 6 zeigt die Überlappung der Atemsequenz mit der Sprechsequenz: Der Sprechbeginn ist zugleich der Start der zweiten Teilaktion der Sequenz Einatmung–Ausatmung und der Start der ersten Teilaktion der eigentlichen Sprechsequenz (dass die Sprechprogramme von der Atmung unabhängig sind, zeigt sich daran, dass wir ohne Schwierigkeit die Wörter stumm und ohne dabei auszuatmen artikulieren können). Atem- und Sprechsequenz müssen zeitlich aufeinander abgestimmt werden. Dabei ist der Moment des Einatemens der wichtigste „Synchronisationspunkt“. Durch die Synchronisation werden die Einatemphasen Teil der Sprechsequenz, werden also gewissermaßen selbst zu Sprecheinheiten.

Sequenz Einatmung–Ausatmung und Sprechsequenz

Abb. 6: Sequenz Einatmung–Ausatmung und Sprechsequenz. Erläuterungen im Text.
 

Eine Sprecheinheit – so hatte ich im Abschnitt 1. 1. geschrieben – muss korrekt beendet sein, damit die nächste Einheit erfolgreich gestartet werden kann. Ebenso muss auch das Einatmen beendet sein, bevor das nächste Wort oder der nächste Satz begonnen wird. Wir können deshalb annehmen, dass es auch dafür ein automatisches Monitoring gibt. Der Unterschied zum Monitoring der Wörter, Phrasen und Sätze besteht allerdings darin, dass hier nicht die Richtigkeit kontrolliert werden muss – es muss nur festgestellt werden, dass der Vorgang des Luftholens beendet ist.

Die Sprechatmung unterscheidet sich von der gewöhnlichen Atmung: Für das Sprechen wird ein größeres Volumen an Luft benötigt, die schnell ein- und langsam wieder ausgeatmet wird. Um das Luftvolumen voll nutzen zu können, muss das Kind das Ende des Einatmens wahrnehmen, um die Phonation unmittelbar danach (aber nicht vorher) zu starten. Die Wahrnehmung des Einatemendes dient also anfangs, in einer rückmeldungsbasierten Steuerung, als Signal für den Start der Phonation – solange, bis die Sequenz Einatmen-Phonation automatisiert und zunehmend vorwärtsgesteuert wird. Die Wahrnehmung des Einatemendes wird damit zu einem begleitenden Monitoring: Wird das Sprechen gestartet, ohne dass der Monitor das Ende des Einatmens registriert hat, dann bewertet er dies als Fehler und blockiert nach einer Reaktionszeit das Weitersprechen. Dies könnte der „Mechanismus“ für Stottern am Sprechbeginn sein  (mehr...) .

Die Frage ist nun, warum Stotterer das Sprechen starten sollten, ohne dass der Monitor das Ende des Einatmens registriert hat. Wenn sie zu früh, also noch während des Einatmens, zu sprechen beginnen würden, wäre das leicht zu beobachten – es ist in der Regel nicht der Fall. Doch es könnte sein, dass der Monitor das Ende des Einatmens einfach nicht registriert, z.B. weil die Aufmerksamkeit der Person zu stark von anderen Dingen beansprucht wird. Für die Vermutung, dass stotternde Kinder und auch manche erwachsene Stotterer ein Problem mit der Wahrnehmung ihrer Atmung haben könnten, spricht die Erfahrung, dass es ihnen hilft, wenn sie üben, nur beim Ausatmen zu sprechen. Naturgemäß ist man dabei gezwungen, auf das Ende der Einatemphase zu achten.

Doch weshalb, so man man einwenden, sollte die automatische Wahrnehmung der eigenen Atmung Aufmerksamkeit erfordern? Ich verwende das Wort Aufmerksamkeit hier weniger als Bezeichnung für einen subjektiven Zustand als vielmehr als Bezeichnung für die Fähigkeit, die Wahrnehmungskapazität oder Reizverarbeitungskapazität zu verteilen: Indem ich meine Aufmerksamkeit auf etwas richte oder von etwas abziehe, verteile ich meine Wahrnehmungskapazität um. Da diese insgesamt begrenzt ist, bedeutet das Richten der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Reiz meist automatisch die Verminderung der Wahrnehmungskapazitüt für andere Reize  (mehr...) . Die Verteilung der Aufmerksamkeit ist einerseits durch den Willen beeinflussbar, andererseits ziehen starke Reize die Aufmerksamkeit auf sich – auch gegen unseren Willen. Für viele Tätigkeiten ist eine optimale Verteilung der Aufmerksamkeit wichtig; wird diese gestört, kommt es zu Fehlern. Insbesondere gehe ich davon aus, dass nicht nur bewusstes, sondern auch automatisches und weitgehend unbewusstes Wahrnehmen (z.B. des eigenen Atems) ein gewisses Maß an Wahrnehmungskapazität erfordert  (mehr...) .

Nehmen wir also an, am Beginn der Phonation war die Wahrnehmungskapazität des Sprechers so sehr durch anderes gebunden, dass der Monitor das Ende der Einatemphase nicht registriert hat. Der Monitor wertet dann den Start der Phonation als Fehler und blockiert das Sprechen. Der Vorgang ist analog zu der im Abschnitt 2. 1. beschriebenen Reaktion auf eine gestörte auditive Rückmeldung. Er ist nur einfacher, weil hier, wie schon erwähnt, nicht die Richtigkeit, sondern nur das Ende einer Aktion festgestellt werden muss. Im Gegensatz zum Monitoring des Sprechens, wo für jede neue Sprecheinheit eine Erwartung der korrekten Form gebildet werden muss, ist die Erwartung des korrekten Ablaufs hier immer dieselbe: Sie besteht einfach darin, dass vor dem Phonationsbeginn das Ende des Einatmens registriert wurde.

In Abbildung 7 sind beide Fälle anhand des einfachen Beispielsatzes "Ich heiße Peter." veranschaulicht: Oben fehlt in der Rückmeldung das Ende eines Wortes, unten fehlt das Ende der Einatembewegung. Die Fehlermeldung (Mismatch) entsteht erst, wenn die nächste Einheit gestartet wird, denn genau das ist der Fehler, den der Monitor verhindern soll: die nächste Einheit zu starten, bevor die vorangegangene beendet ist. In beiden Fällen hat der Sprecher bis zu diesem Zeitpunkt keinen Fehler gemacht – die Fehlermeldungen sind allein durch Unterbrechung der Rückmeldung entstanden. Es sind also falsche Fehlermeldungen. Sie führen jedoch dazu, dass die nachfolgende Sprecheinheit blockiert wird. In der Abbildung ist dies nur angedeutet, ohne ein bestimmtes Stottersymptom darzustellen.

Gestörte auditive Rückmeldung und gestörte Rückmeldung der Atmung

Abb. 7: Fehler durch gestörte auditive Rückmeldung (A) und durch gestörte Rückmeldung des Einatemendes (B). F = falsche Fehlermeldung, R = Reaktionszeit. Grün: produzierte Sprache, Rot: Monitoring (Vergleich zwischen Erwartung und Wahrnehmung.

Der oben beschriebene und in Abbildung 7B dargestellte Pathomechanismus erklärt das Stottern allerdings nur in den Fällen, in denen vor dem Sprechbeginn eingeatmet wurde.Stottern am Sprechbeginn kann aber auch auftreten, ohne dass zuvor eingeatmet wurde (wie ich aus eigener Erfahrung weiß). Wie sind solche Symptome erklärbar? Ich vermute, dass bereits ein fehlendes Umschalten von Ruheatmung auf Sprechatmung vor einer längeren Äußerung (nicht bei einem kurzen Ausruf, einem Fluch oder dergl.) d.h. das Beginnen einer längeren Äußerung mit Restluft vom Monitoring-System als Fehler bewertet wird. Oder, noch allgemeiner: Die (falsche) Fehlermeldung entsteht dadurch, dass dem System beim Sprechbeginn Informationen über den Ist-Zustand der Atmung fehlen.

Für Defizite in der auditiven Rückmeldung bei Stotterern gibt es zahlreiche empirische Nachweise [2] – nicht jedoch für Defizite bei der Selbstwahrnehmung der Atmung. Allerdings wurde 2014 in einer Untersuchung der Verknüpfungen zwischen den an der Sprachverarbeitung beteiligten Hirnarealen eine signifikant geringere Konnektivität zwischen dem linksseitigen ventralen somatosensorischen Kortex und motorischen und prämotorischen Regionen gefunden [3]. Dieser Befund könnte auf ein Defizit in der Selbstwahrnehmung der Atmung hindeuten.  (mehr...) 

Fragen wir uns nun, was das für Ablenkungen sein könnten, die die Aufmerksamkeitsverteilung am Sprechbeginn durcheinanderbringen. Wodurch könnte die Aufmerksamkeit eines Sprechers so stark beansprucht werden, dass er (oder der dafür zuständige Monitor in seinem Gehirn) das Ende des Einatmens nicht registriert? Die naheliegendste Vermutung ist, dass die Aufmerksamkeit bereits stark auf das Sprechen gerichtet ist, etwa auf den Inhalt der Botschaft, die der Sprecher zum Ausdruck bringen will. Bei kleineren Kindern jedoch – in dem Alter, in dem das Stottern meist ausbricht – dürfte neben dem Inhalt auch die Satzplanung, die Anordnung der Wörter in der richtigen Reihenfolge, viel Aufmerksamkeit binden. Das würde eine Erklärung für zwei Phänomene liefern: Es würde erstens erklären, warum Stottern zumeist in jener Phase der Sprachentwicklung ausbricht, in der die Kinder von Ein- oder Zweiwortäußerungen zum Sprechen von Sätzen fortschreiten [4], und es würde zweitens erklären, warum in diesem Alter Stottern oft unmittelbar am Satzanfang auftritt.

Für einen Zusammenhang zwischen den Anforderungen an die Sprechplanung und dem Auftreten von Stottern spricht, dass stotternde Vorschulkinder mit größerer Wahrscheinlichkeit bei längeren und grammatisch komplexeren Sätzen stottern als bei kurzen und/oder einfachen Sätzen [5]. Es spricht jedoch wenig dafür, dass es die Sprechplanung selbst ist, die den Kindern Probleme bereitet, da die sprachlichen Fähigkeiten stotternder Kinder in diesem Alter statistisch sogar etwas über dem Durchschnitt liegen [6]. Vielmehr, dürfte es die starke Aufmerksamkeit auf die Sprechplanung sein, die einerseits bewirkt, dass diese Kinder für ihr Alter überdurchschnittlich korrekt sprechen, die andererseits aber die Gefahr des Stotterns am Satzanfang heraufbeschwört: Die Gesamtwahrnehmungskapazität ist ungünstig verteilt, es bleibt zu wenig für die Wahrnehmung der Atmung übrig  (mehr...) .

Zusätzlich zu dem natürlichen Bemühen des Kindes um gute Satzbildung könnten Umgebungseinflüsse eine ungünstige Rolle spielen: Die Aufmerksamkeit kann auch dann übermäßig auf die Sprechplanung gerichtet sein, wenn ein Kind sich nicht traut, spontan zu reden, weil es fürchtet, das Falsche zu sagen, nicht korrekt genug zu sprechen, bestraft oder beschämt zu werden. Das Kind wird seine Worte dann übertrieben sorgfältig und vorsichtig wählen. Das mag Fälle erklären, in denen psychische Faktoren, z.B. eine schwierige familiäre Umgebung, augenscheinlich zur Entstehung von Stottern beitragen. Wenn ein stotterndes Kind sich dann seiner Störung bewusst geworden ist, können die Furcht vor dem Stottern und das Bemühen, es zu vermeiden zusätzliche Gründe sein, die Aufmerksamkeit auf die Sprechplanung zu verstärken. Insbesondere dies mag die Ursache dafür sein, dass auch am Beginn von sehr einfachen Äußerungen, mitunter sogar bei einzelnen Wörtern (z.B. dem eigenen Namen) Stottern auftritt – sogar bei erwachsenen Stotterern. Die Hauptursache für das Auftreten des kindlichen Stotterns, insbesondere auch des vorübergehenden „Entwicklungsstotterns“, dürfte jedoch eine Fehlverteilung der Aufmerksamkeit durch die neuen Anforderungen beim Übergang zum Satzsprechen sein.

Stottern am Beginn einer Äußerung lässt sich also, ähnlich wie Stottern innerhalb gebundener Sprache, mit einer Störung der Rückmeldung erklären – in diesem Fall jedoch der propriozeptiven Rückmeldung der Atembewegungen. Solche Störungen können natürlich auch innerhalb gebundener Sprache nach Einatempausen auftreten. Die vorläufige Definition eines Stotterereignisses kann nun vervollständigt und allgemeiner formuliert werden:

Ein Stotterereignis ist eine Störung des Sprachflusses durch die Blockierung eines Sprechprogramms. Das Sprechprogramm wird blockiert, weil der Monitor das Ende (den erfolgreichen Abschluss) der vorangegangenen Einheit der Sprechsequenz nicht registriert hat (die vorangegangene Einheit kann z.B. ein Wort, eine Phrase, eine Silbe, aber auch eine Einatemphase sein). Ursache der Nicht-Registrierung des Endes ist eine Störung der auditiven Rückmeldung bzw. der propriozeptiven (kinästhetischen) Rückmeldung der Atmung.

Aus dem Obigen sollte klar geworden sein, dass ich nicht annehme, Stotterer würden stottern, weil sie falsch atmen. Es gibt viele Leute, deren Art zu atmen nicht optimal ist, und die trotzdem nicht stottern. Wenn das Stottern trotzdem mit Hilfe von Atemtechniken reduziert und manchmal sogar beseitigt werden kann, dann ist der Grund meines Erachtens der, dass das Erlernen dieser Techniken dazu zwingt, während des Sprechens einen Teil der Aufmerksamkeit auf die Atmung zu richten. Das würde dann aber auch bedeuten: Je mehr die Technik automatisiert wird, um so geringer ist ihre stotterreduzierende Wirkung.

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Fußnoten

Automatische Kontrolle des Einatemendes

Man kann dagegen einwenden, dass wir durchaus in der Lage sind, während des Einatmens zu sprechen, wenn wir es wollen. Das stimmt. Aber wir sind auch in der Lage, Wörter absichtlich falsch zu sprechen oder syntaktisch falsche Sätze zu produzieren, ohne dass der innere Monitor den Sprachfluss unterbricht, d.h.. wir können Levelts Main Interruption Rule willentlich außer Kraft setzen. Willkürliches Verhalten ist der automatischen Steuerung übergeordnet. Unsere erstaunliche Fähigkeit, unwillkürlich weitgehend phonologisch, grammatisch und syntaktisch korrekt und fließend zu sprechen beruht jedoch auf automatischen Steuervorgängen. Zwar ist der Beginn einer Äußerung ein bewusster, willentlicher Akt, doch sein Gelingen ist, wie alles willentliche Verhalten, von automatischen und unbewussten Vorgängen im Gehirn abhängig. Dazu könnte das Erkennen des Endes der Einatemphase durch den Monitor gehören.  (zurück) 
 

Beeinflussung der Wahrnehmung durch die Aufmerksamkeit

Dass die bewusste Wahrnehmung durch die Aufmerksamkeit beeinflusst wird, weiß jeder aus eigener Erfahrung: Ein leichter Schmerz, z.B. in einem Zahn, wird stärker, wenn man die Aufmerksamkeit darauf richtet. Ist man dagegen abgelenkt, etwa durch eine spannende Lektüre, dann „vergisst“ man den Schmerz oft, d.h. er wird aus dem Bewusstsein ausgeblendet. Die Schmerz-Rezeptoren in dem kariösen Zahn feuern zwar nach wie vor, doch die Erregungen werden nicht an jene Bereiche im Gehirn weitergeleitet, die die bewusste Schmerzempfindung erzeugen. Soldaten haben berichtet, dass sie im Kampf trotz schwerer Verwundungen keine Schmerzen gespürt hätten.

Auch die Sprachwahrnehmung wird von der Aufmeksamkeit beeinflusst: Sprache wird nicht verstanden, sondern nur als Geräusch wahrgenommen, wenn die Aufmerksamkeit nicht darauf gerichtet ist (mehr dazu im nächsten Kapitel). Die Schaltstelle im Gehirn, die darüber entscheidet, ob Erregungen von der sensorischen Peripherie zur Großhirnrinde weitergeleitet werden, ist der Thalamus, dessen Aktivität unter anderem durch die willentliche Fokussierung der Aufmerksamkeit gesteuert wird.  (zurück) 
 

Fehler durch falsche Verteilung der Aufmerksamkeit

Soger so einfache Verrichtungen wie Essen und Trinken erfordern eine angepasste Verteilung der Aufmerksamkeit, d.h. der Wahrnehmungskapazität: Als kleine Kinder haben wir uns häufig verschluckt. Irgendwann haben wir gelernt, darauf zu achten, nur dann einzuatmen, wenn der Mund leer ist. Dann haben wir dieses Verhalten automatisiert und achten nicht mehr bewusst darauf. Aber wenn beim Essen oder Trinken die Aufmerksamkeit stark abgelenkt wird – durch ein erregtes Gespräch, einen spannenden Film – dann kann es passieren, dass man sich verschluckt. weil nicht mehr genug Aufmerksamkeit für das automatische Wahrnehmen des Mundinhaltes zur Verfügung steht. Die Folge ist hier allerdings nicht die Reaktion eines Monitors im Gehirn, sondern ein Hustenanfall – eine unmittelbare körperliche Reaktion darauf, dass Nahrung in die Luftröhre geraten ist.  (zurück) 
 

Ventraler somatosensorischer Kortex

Auf dem ventralen (unteren) Teil des somatosensorischen Kortex sind die Selbstwahrnehmung des Mundbereichs (Lippen, Gaumen, Kiefer, Zunge, Rachen) und der Eingeweide lokalisiert:

Abbildung Sensorkortex

Für eine Beeinträchtigung der Wahrnehmung der Mund-, Zungen- oder Kieferbewegungen bei Stotterern spricht aber wenig, denn ein Defizit in diesen Bereichen müsste sich ganz allgemein auf die Qualität der Artikulation auswirken. Es müsste zu undeutlichen oder unsicheren Sprechbewegungen führen, und zwar schon bei der Artikulation einzelner Silben. Das ist aber bei Stotterern nicht zu beobachten: Wenn sie flüssig sprechen, ist ihre Artikulation in der Regel normal. Es wurden auch keine signifikanten Gruppenunterschiede zwischen Stotterern und Nichtstotterern hinsichtlich der kinästhetischen Wahrnehmung der Kieferbewegungen gefunden [7]. Es spricht deshalb einiges dafür, dass die verminderte Konnektivität des ventralen somatosensorischen Kortex die Wahrnehmung der Atmung betrifft.

Empirisch nachgewiesen ist eine Repräsentation der Atmung auf dem ventralen somatosensorischen Kortex für das bewusste Ausatmen, und zwar im unteren Bereich der Mund-/Rachen-Repräsentation (unterer Pfeil) [9]. Aber auch das Spüren der Eingeweide könnte bei der Wahrnehmung der Atmung eine Rolle spielen. Denn wie spürt man die Atmung? Die Bewegung des Zwerchfells selbst ist nicht wahrnehmbar. Was man spürt, ist der wechselnde Druck, den das Zwerchfell auf den oberen Bauchraum ausübt. Wenn man bewusst nur beim Ausatmen spricht (was gerade stotternden Kindern oft hilft), wird die sensorische Rückmeldung im ventralen somatosensorischen Kortex verarbeitet. Eine verminderte Konnektivität zwischen diesem Areal und den motorischen und prämotorischen Regionen könnte also ein Indiz dafür sein, dass die Wahrnehmung der Atmung nicht hinreichend in die Sprechsteuerung einbezogen wird.

Auch das Areal der Repräsentation des Leibes (des Rumpfes) auf dem dorsalen somatosensorischen Kortex (oberer Pfeil) dient u.a. der Wahrnehmung der Atmung [9]. Der linke dorsale somatosensorische Kortex ist bei Stotterern (als Gruppe) signifikant schlechter mit dem supplementärmotorischen Areal (SMA) und dem motorischen Kortex verknüpft als bei Nichtstotterern [3]. Möglicherweise ist auch hier die Selbstwahrnehmung der Atmung betroffen, bzw. die Einbeziehung dieser Information in die Sprechsteuerung . Das SMA ist die Region, in der willentliche Bewegungen gesteuert werden, also z.B. auch das Ansetzen zum Sprechen.  (zurück) 
 

Inkrementelle und holistische Satzplanung

Das spontane Formulieren längerer Sätze verlangt eine inkrementelle Satzplanung, d.h. der Satz wird während des Sprechens nach und nach geplant, auf der Basis des bereits Gesagten (auch hier spielt die auditive Rückmeldung eine Rolle). Kinder, die beim Übergang zum Satzsprechen gleich zur inkrementellen Planung übergehen, werden häufiger Fehler machen, sich verbessern, Wörter wiederholen, nach dem passenden Wort suchen usw. – ihre Sprache wird also viele normale Unflüssigkeiten enthalten. Doch da der Sprechplanungs-Aufwand über den Satz verteilt ist, ist er am Satzbeginn geringer – und damit dürfte auch das Risiko für Stottern am Satzbeginn geringer sein. Dagegen werden Kinder, die ihre Sätze holistisch, also im Ganzen, planen, vielleicht weniger normale Unflüssigkeiten produzieren, aber sie brauchen für die Planung am Satzbeginn sehr viel Aufmerksamkeit. Dadurch vergrößert sich das Risiko für Stottern.

In Bildbenennungs-Experimenten ist gezeigt worden, dass fünfjährige stotternde Kinder beim Abrufen kurzer Wörter eher holistisch vorgehen (das Wort als Ganzes abrufen), während gleichaltrige nichtstotternde Kinder eher inkrementell vorgehen (das Wort mit dem Anfang beginnend abrufen) [8]. Daraus lässt sich nicht unmittelbar auf die Satzplanung schließen, doch muss man bedenken, dass die Kategorien Wort und Satz für das Gehirn keine Rolle spielen: Häufig gebrauchte Phrasen und kurze Sätze ("Wie geht es dir?" und ähnliches) werden genau wie Wörter durch je ein einziges Sprechprogramm produziert. Es wäre deshalb sehr natürlich, wenn Kinder beim Übergang zum Satzsprechen zunächst versuchten, kurze Sätze genau wie Wörter zu produzieren.  (zurück) 
 

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Quellen

  1. Buhr & Zebrowski (2009), Richels et al. (2010)
  2. Braun et al. (1997), Cai et al. (2012, 2014a), Fox et al. (1996), Ingham et al. (2003), Loucks, Chon, & Han (2012), Stager et al. (2003), Toyomura et al. (2011)
  3. Cai et al. (2014b)
  4. Bernstein Ratner & Wijnen (2005), Reilly et al. (2009)
  5. Bernstein Ratner & Sih (1987), Richels et al. (2010), Yaruss (1999)
  6. Reilly et al. (2009), Yairi (2012)
  7. Daliri et al. (2013)
  8. Byrd, Conture & Ohde (2007)
  9. Simonyan & Horwitz (2011)
  10. Max & Daliri (2019)
  11. Whillier et al. (2018)

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