In diesem Kapitel soll noch einmal genauer die Entwicklung der Störung betrachtet werden und die Faktoren, die dabei eine Rolle spielen – die Faktoren also, die den Pathomechanismus auslösen und diejenigen, die zu seiner Aufrechterhaltung bzw. seiner Überwindung beitragen. Neuere Untersuchungen stotternder Kinder relativ kurz nach Ausbruch der Störung (Chow u. Chang, 2017) haben gezeigt, dass bereits in diesem frühen Stadium strukturelle Unterschiede im Gehirn bestanden zwischen den Kindern, die nur eine temporäre Phase des Stotterns durchlebten und denen, deren Stottern bestehen blieb. Dies legt den Schluss nahe, dass es keine allmähliche Chronifizierung des Stotterns gibt. Vielmehr scheint meistens von vornherein festzustehen, ob die Störung von selbst wieder verschwindet oder bestehen bleibt, und der Einfluss äußerer Faktoren darauf dürfte eher gering sein. In diesem Kapitel wird deshalb zwischen der Entwicklung des vorübergehenden Stotterns und der des chronischen Stotterns unterschieden. Zum vorübergehenden Stottern wird hier auch das psychogene Stottern gerechnet, das meist spät und im Zusammenhang mit einem psychischen Trauma ausbricht. Da hier die psychischen Faktoren überwiegen und die physische Veranlagung zum Stottern eher gering ist, kann durch geeignete Psychotherapie oft eine vollständige Remission erreicht werden.
Das idiopathische Stottern wird heute als eine neuronale Entwicklungsstörung angesehen, doch besonders bei kleinen Kindern gibt es eine Wechselwirkung zwischen der Gehirnentwicklung und dem Lernen, also der Entwicklung von Verhaltensroutinen und Gewohnheiten. Ein Aspekt des Verhaltens, der oft über-sehen wird, ist die Verteilung der Aufmerksamkeit und damit der Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazität, die insgesamt begrenzt zu sein scheint. Für jede komplexere Verhaltensroutine, so auch für das Sprechen, muss die adäquate Aufmerksamkeitsverteilung und deren Modulation erlernt und automatisiert werden. Die vorliegende Theorie nimmt an, dass genau dieser eher unbewusste Teil der Verhaltenssteuerung der entscheidende Ursachenfaktor bei der Entwicklung des Stotterns ist. Abbildung 19 zeigt die Entwicklung vom Ausbruch des Stotterns bis zur Remission (das chronische Stottern ist hier nicht enthalten).
Ursache des vorübergehenden kindlichen Stotterns scheint ein Entwicklungsungleichgewicht im Aufmerksamkeitssystem zu sein, und zwar ein Übergewicht der Aufmerksamkeit auf die Ziele von Aktionen (top-down) auf Kosten der Aufmerksamkeit für die passive Wahrnehmung, einschließlich der sensorischen Rückmeldung (bottom-up). Das wird bei der Sprachentwicklung problematisch beim Übergang von Ein-Wort-Äußerungen zum gebundenen Sprechen und zur Satzbildung, da nun Hör- und Atem-Rückmeldung stärker in die Sprechsteuerung einbezogen werden müssen. Das Gehirn muss wissen, welche Teile eines Satzes bereits produziert sind, um den Satz korrekt beenden zu können, und Fehler im Satz müssen sofort erkannt werden (in den Abschnitten 1.3 und 1.4 ist erklärt, warum dies über die Hör-Rückmeldung erfolgt). Atempausen müssen an geeigneten Stellen in die Sprachsequenz eingefügt werden. Natürlich sind sich die Kinder keiner Verhaltensänderung bewusst, wenn sie beginnen, in Sätzen zu sprechen, und sie ahnen nicht, dass dafür auch eine Änderung im Aufmerksamkeitsverhalten.
Es gibt einige empirische Befunde, die auf ein Ungleichgewicht im Aufmerksamkeitssystem hindeuten: Dazu gehört erstens eine hohe Zahl von Dopamin-D2-Rezeptoren im Alter zwischen 21/2 und 3 Jahren (Alm, 2004). Alm (2004) hat vermutet, dass die hohe Dopamin-Aufnahme in den Basalganglien die direkte Ursache für das Stottern ist; sie dürfte aber eher die Ursache oder der Ausdruck eines Ungleichgewichts in der Verhaltens- und Aufmerksamkeitssteuerung sein, durch die das Risiko für Stottern in diesem Alter erhöht wird.
Ferner wurde eine geringere fraktionelle Anisotropie im linken Fasciculus arcuatus bei stotternden Kindern im Vergleich zu nicht stotternden Altersgenossen festgestellt (Chow u. Chang, 2017). Interessanterweise war der Befund bei den Kindern, die nur vorübergehend stotterten, teilweise deutlicher ausgeprägt als bei denen, deren Stottern sich als chronisch erwies (siehe Fig. 1, Cluster 1 und 2 in der Studie). Die fraktionelle Anisotropie (FA) ist ein Maß für die Ungleichmäßigkeit der Diffusion der Wassermoleküle; mit ihrer Hilfe lässt sich der Verlauf von Nervenfasern im Gehirn erkennen, und es lassen sich Rückschlüsse auf deren strukturelle Eigenschaften ziehen, z.B. auf den Grad strukturellen Entwicklung. Der Fasciculus arcuatus ist ein Nervenfaserbündel, das sensorische und prämotorische/motorische Areale der Großhirnrinde verbindet. Die geringere FA kann auf eine verzögerte Entwicklung der Fasern hindeuten, was wiederum dadurch verursacht sein kann, dass diese Fasern weniger aktiviert werden, weil sensorische Informationen in geringerem Maße in die Bewegungsplanung und -steuerung einbezogen werden (der Zusammenhang zwischen der Aktivität von Nervenfasern und der FA wurde in mehreren Studien gezeigt, u.a. von Bengtsson et al., 2005; Keller u. Just, 2009; Scholz et al., 2009).
Ein weiterer Befund, der auf ein Ungleichgewicht im Aufmerksamkeitssystem hinweist, ist eine atypische funktionelle Konnektivität neuronaler Netzwerke bei stotternden im Vergleich zu nicht stotternden Kindern (Chang et al., 2018). Funktionelle Konnektivität zwischen zwei Hirnarealen bedeutet, dass die Areale tendenziell gleichzeitig aktiviert oder deaktiviert sind, ohne dass eine strukturelle Verbindung zwischen ihnen bestehen muss. Besonders die übermäßige Konnektivität zwischen dem ventralen (bottom-up) Aufmerksamkeits-Netzwerk und dem Defaultmodus-Netzwerk (siehe Fig. 5A in Chang et al., 2018) deuten auf ein Ungleichgewicht bei der Steuerung der Aufmerksamkeit hin.
Das Defaultmodus-Netzwerk ist dadurch gekennzeichnet, dass es bei zielgerichtetem Verhalten deaktiviert ist – übermäßige Konnektivität mit dem ventralen Aufmerksamkeitsnetzwerk bedeutet also, dass auch letzteres bei zielgerichtetem Verhalten tendenziell deaktiviert ist. Da die automatische Verarbeitung der sensorischen Rückmeldung vor allem durch das ventrale Aufmerksamkeitsnetzwerk erfolgt, bedeutet dessen Deaktivierung bei zielgerichtetem Verhalten, dass dann die Rückmeldung schlecht verarbeitet wird. Überraschenderweise fanden Chang et al. (2018) sogar eine verminderte funktionelle Konnektivität im visuellen Netzwerk bei stotternden Kindern, was ein generelles Defizit bei der Einbindung der Sensorik in die Verhaltenssteuerung vermuten lässt.
Der wichtigste Auslöser für das kindliche Stottern ist der Übergang zum gebundenen Sprechen und zur Satzbildung. Die Ansicht, dass der Ausbruch des Stotterns in vielen Fällen damit in Beziehung steht, ist nicht neu. Bloodstein (2006, S. 185)) hat bereits auf folgende Beobachtungen hingewiesen: „das frühe Stottern tritt selten in Ein-Wort-Äußerungen auf; das früheste Alter, in dem von Stottern berichtet wird, sind 18 Monate, mit dem Beginn der grammatischen Entwicklung; das Alter, in dem meist über den Beginn des Stotterns berichtet wird, ist 2-5 Jahre, was mit der Periode zusammenfällt, in der die Kinder sich die Syntax aneignen; eine beachtliche Spontanremission findet statt, wenn die Kinder die Syntax zu beherrschen gelernt haben; das anfängliche Stottern wird von der Länge und grammatischen Komplexität der Sätze beeinflusst...“
Spät einsetzendes und sogenanntes psychogenes Stottern sind in Abb. 5 einbezogen, werden hier also zum vorübergehenden Stottern gezählt, denn der zugrundeliegende Mechanismus dürfte derselbe wie beim idiopathischen Stottern sein. Die Betroffenen scheinen jedoch keine starke physische Veranlagung zum Stottern zu haben, insbesondere nicht für chronisches Stottern. Bei Personen, deren Aufmerksamkeitssystem anfällig ist, können starke negative Gefühle, Stress, Furcht oder die Nachwirkungen eines Traumas zu einer Fehlverteilung der Aufmerksamkeit auch beim Sprechen zur Folge haben, die dann zum Stottern führen kann. Durch eine unterstützende Umgebung und/oder durch Behandlung, einschließlich Psychotherapie, ist in solchen Fällen oft eine vollständige Remission möglich (siehe Tabelle 1 in Chang et al., 2010).
Die spontane Remission des Stotterns wird vermutlich durch eine Art unbewussten Lerneffekt verursacht: Die Kinder lernen schließlich, die Verteilung ihrer Aufmerksamkeit an die neuen Erfordernisse des gebundenen Sprechens und der Satzproduktion anzupassen. Dieser Lerneffekt manifestiert sich in der Gehirnstruktur, siehe z.B. die ansteigende Entwicklung der FA in der Gruppe der Kinder, die später eine Spontanremission erlebten, in der Studie von Chow und Chang (2017) in den Clustern 3, 5 und 6. Wie oben erwähnt, wird die strukturelle Entwicklung der Nervenfasern durch deren Aktivität beeinflusst,: Schon wenige Wochen Praxis, z.B. im Lesen oder Jonglieren, können zu einer Erhöhung der FA in der weißen Masse den beteiligten Hirnregionen führen (Keller und Just, 2009: Scholz et al., 2009).
Auch wenn die meisten stotternden Kinder lernen, ihre Aufmerksamkeitsverteilung an die Erfordernisse des gebundenen Sprechens anzupassen, so heißt dies nicht, dass dann bei ihnen alles so abläuft wie bei Kindern, die nie gestottert haben. Die von Chang et al., (2008, 2018) gewonnenen Befunde zeigen, dass noch Unterschiede in der Gehirnstruktur und -funktion zwischen Remittenten und chronisch stotternden Kindern bestehen. Doch Chang et al. (2018) stellten auch fest, dass sich zwischen dem Defaultmodus-Netzwerk, den Aufmerksamkeits-Netzwerken und den Netzwerken, die die Bewegungs-Ausführung steuern bei den Remittenten die funktionelle Konnektivität normalisiert hatte. Die Überwindung des Stotterns scheint also mit einer Normalisierung der Funktion des Aufmerksamkeitssystems einherzugehen.