Bei größeren Kindern und bei Erwachsene mit chronischem Stottern treten die Symptome typischerweise nicht mehr unmittelbar am Satzanfang auf (auf der ersten Silbe des ersten Wortes im Satz), sondern innerhalb des Satzes (mehr...) . Das dürfte damit zusammenhängen, dass der Übergang zur inkrementellen Satzplanung vollzogen wurde. Allerdings treten meist mehr Symptome im vorderen Bereich als am Ende eines Satzes auf [1] – auch für die inkrementelle Planung wird am Satzanfang mehr und am Satzende weniger Aufmerksamkeit benötigt. Die Hauptursache für die Fehlverteilung der Aufmerksamkeit ist beim chronischen Stottern jedoch nicht mehr die normale Sprechplanung. Die Hauptursache der Fehlverteilung ist jetzt vielmehr das Stottern selbst – genauer gesagt, die Erwartung des Stotterns und das Bestreben, es zu vermeiden oder zu beherrschen. Allerdings kommen noch andere Faktoren hinzu:
Besonders häufig tritt Stottern bei betonten oder inhaltlich wichtigen Wörtern auf [2]. Dieses Muster lässt sich mit einer temporären Fehlverteilung der Aufmerksamkeit erklären: Nehmen wir an, jemand ist erfüllt von dem, was er mitteilen will und richtet seine Aufmerksamkeit ganz auf den Inhalt und auf die für den Inhalt wichtigen Wörter. Die Aufmerksamkeit eilt gewissermaßen voraus zu diesen wichtigen Wörtern. Dann besteht die Gefahr, dass in den hinteren Bereichen der „unwichtigen“ Wörter davor zu wenig Aufmerksamkeit für den auditiven Kanal übrig bleibt. Die Folge ist, dass deren Enden vom Monitor nicht erkannt werden, was zu einer Blockierung des Sprechprogramms für das nachfolgende „wichtige“ Wort führt. Wenn also „wichtige“ Wörter – betonte Wörter und solche mit hohem Informationsgehalt – häufiger gestottert werden als andere (z.B. Funktionswörter), so liegt das nicht an den Eigenschaften dieser Wörter, sondern daran, dass der Sprecher seine Aufmerksamkeit übermäßig darauf fokussiert.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Furcht oder emotionale Anspannung während des Sprechens die Aufmerksamkeit stark beanspruchen und dadurch die Wahrnehmung des Atems und die auditive Wahrnehmung der eigenen Rede beeinträchtigen können. Doch solche ungünstigen Kommunikationssituationen entstehen nicht nur durch emotionale Spannungen zwischen Gesprächspartnern, z.B. in einer schwierigen familiären Situation. Sie werden auch durch das Stottern selbst erzeugt, nachdem ein Kind sich seiner Sprechstörung bewusst geworden ist: Seine verbale Kommunikation ist dann oft angstbeladen, die Aufmerksamkeit wird automatisch auf die Bedrohung durch das Stottern gezogen [3], und häufig wird viel Aufmerksamkeit auf die Vermeidung von Stottern gerichtet oder auf die Beobachtung der Reaktionen der Zuhörer auf Stottersymptome. In dem Bemühen, Stottern zu vermeiden, werden die Worte sorgfältig ausgewählt. Für Wörter mit gefürchteten Anfangslauten werden werden Synonyme gesucht, oder der Satz wird so umgestellt, dass er nicht mit dem schwierigen Wort beginnt. Andere Betroffene verwenden viel Aufmerksamkeit auf die Sprechbewegungen und ihre willentliche Steuerung: auf betont langsames Sprechen, weichen Stimmeinsatz oder darauf, Stottersymptome frühzeitig zu spüren, um sie besser kontrollieren zu können.
Auf diese Weise entwickelt sich ein Teufelskreis, in dem vor allem das Stottern selbst die Ursache für die Fehlverteilung der Aufmerksamkeit und diese wiederum die Ursache für das Stottern ist. Dieser Teufelskreis wird meist noch durch diverse Sekundärsymptome verstärkt, wie in Abbildung 9 dargestellt ist. Diese Selbstverstärkung dürfte großen Einfluss auf die Häufigkeit und Schwere des Stotterns haben.
Abb. 9: Der Teufelskreis des chronischen Stotterns und die verstärkende Rolle einiger Sekundärsymptome (Fehlst. = Fehlsteuerung/Fehlverteilung)
Die Verknüpfung zwischen der Erwartung von Stottern und dem Auftreten von Stottern wurde bereits in den 30er Jahren erkannt und später von Oliver Bloodstein in seiner Anticipatory Struggle Hypothesis [4] beschrieben: Beim Lesen wird ein Wort mit größerer Wahrscheinlichkeit gestottert, wenn der Sprecher auf diesem Wort Stottern erwartet (mehr...) . Es muss allerdings betont werden, dass Stottern auch ohne die Antizipation von Stottern auftritt – am Beginn des kindlichen Stotterns (es war eine Schwäche der Anticipatory Struggle Hypothesis, dass sie den Ausbruch des kindlichen Stotterns nicht erklären konnte), aber auch nicht selten beim chronischen Stottern. Die entscheidende Ursache des Stotterns ist, dass die Aufmerksamkeit zu stark vom Hören der eigenen Rede und/oder vom Spüren der Atembewegungen abgezogen ist. Die Ursache dafür kann die Erwartung einer Blockierung sein. Es kann aber z.B. auch dadurch verursacht sein, dass der Sprecher seine Aufmerksamkeit übermäßig auf den Inhalt seiner Rede und/oder auf die Planung seiner Sätze richtet. – Nun kann die typische Verteilung der Stottersymptome allgemeiner erklärt werden:
Ein Wort wird mit höherer Wahrscheinlichkeit gestottert, wenn es die Aufmerksamkeit des Sprechers auf sich zieht – sei es wegen seines Inhalts, seiner Länge, seiner Betontheit, oder weil, z.B. wegen der Anfangslaute, auf diesem Wort Stottern erwartet wird.
Ursache sind also nicht die Eigenschaften eines Wortes, sondern das vorauseilende Fokussieren der Aufmerksamkeit auf dieses Wort. Dadurch wird das Ende des vorangegangenen Wortes durch den Monitor nicht erkannt. Entsprechendes gilt auch für Silben: Wenn Silben innerhalb von Wörtern gestottert werden, dann meist solche, auf denen die Betonung liegt oder solche mit gefürchteten Anfangslauten. Auch hier bewirkt das vorauseilende Fokussieren der Aufmerksamkeit auf diese Silben, dass das Ende der vorhergehenden Silbe vom Monitor nicht erkannt wird.
Die vorgeschlagene Theorie – nennen wir sie der Einfachheit wegen "Aufmerksamkeits-Theorie" – erlaubt ferner, den Einfluss von Umgebungsfaktoren auf das Stottern zu erklären: Es ist die Verteilung der Aufmerksamkeit des Sprechers, die davon beeinflusst wird, ob er mit sich selbst spricht, mit einem Baby oder einem Haustier, oder mit dem Lehrer, dem Chef oder vor einem großen Publikum. Und es ist diese Veränderung der Aufmerksamkeitsverteilung, die dazu führt, dass in den verschiedenen Situationen weniger oder mehr Stottern auftritt.
Am Schluss dieses Kapitels soll noch ein Gegenargument entkräftet werden. Es besagt, dass Stottern nicht durch eine Störung der auditiven Rückmeldung verursacht sein kann, weil Stotterer keine Schwierigkeiten mit dem Erkennen ihrer Versprecher haben. Nun gehe ich zwar tatsächlich davon aus, dass die auditive Rückmeldung für die Sprechfehler-Erkennung entscheidend ist. aber in der hier vorgeschlagenen Theorie wird nicht angenommen, dass die auditive Rückmeldung generell gestört ist. Es wird lediglich angenommen, dass sie in den hinteren Bereichen von Wörtern oder Phrasen sowie an den Enden unbetonter Silben innerhalb von Wörtern vorübergehend unterbrochen ist. Sprechfehler, die nur diese Stellen betreffen, kommen jedoch selten vor. Bei der Analyse von zwei Versprechersammlungen fand ich nur 28 von 474 Fehlern (= ca. 5,9 %) in der ersten Sammlung [8] und 17 von 488 Fehlern (= ca. 3,5 %) in der zweiten Sammlung [9], die diesen Kriterien entsprachen. Daher wird man, auch wenn die hier vorgeschlagene Theorie richtig ist, kaum statistisch signifikante Unterschiede in der Sprechfehler-Erkennung und Korrektur zwischen Stotterern und Nichtstotterern finden (mehr...) .
Die Darstellung der Theorie im engeren Sinne ist damit abgeschlossen. Auf den folgenden Seiten geht es darum, zu zeigen, wie sich mit Hilfe der Aufmerksamkeits-Theorie viele Beobachtungen und Befunde, die mit dem Stottern im Zusammenhang stehen, erklären lassen.
Bei Lese-Übungen treten die Symptome auch bei chronischen Stotterern oft auf dem ersten Wort im Satz auf [10]. Das mag daran liegen, dass beim Lesen keine eigenen Sätze geplant werden müssen, sodass hier das Stottern überhaupt nicht mit Satzplanung zusammenhängt, sondern mit dem Informationsgehalt der Wörter: Die Wörter am Satzende haben einen geringen Informationsgehalt in dem Sinne, dass sie aus dem bereits Gelesenen mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagbar sind. Daher eilt die Aufmerksamkeit voraus zum Anfang des nächsten Satzes – und dort tritt dann Stottern auf.
Anders liegen die Dinge beim spontanen Sprechen: Stotter-Ereignisse auf dem 2., 3, oder 4. Wort sind typisch für das chronische Stottern, nicht jedoch auf dem ersten Wort [11]. Ich habe selbst vielen Stotternden zugehört und darauf geachtet, ob das erste Wort im Satz gestottert wird – es ist selten der Fall. Das erste Wort eines deutschen Satzes ist nämlich meist ein kurzes Funktionswort – ein Artikel, ein Pronomen, eine Präposition oder ähnliches – auf solchen Wörtern tritt Stottern seltener auf. Danach – an 2., 3., 4. Stelle im Satz – kommen die inhaltlich wichtigen Wörter – Substantive, Adjektive, Adverbien, Verben – auf die die Aufmerksamkeit des Sprechers gerichtet ist und die deshalb auch am häufigsten gestottert werden. Wenn tatsächlich einmal ein Satz mit einem Substantiv beginnt, haben manche Stotterer die Gewohnheit, den Satz mit einem 'Starter' zu beginnen, etwa: „Ähm, Peter hat...“. Der Starter hat zwar die Funktion, den Satzanfang zu erleichtern und das Stottern am Satzbeginn zu vermeiden, aber weil die Aufmerksamkeit bereits auf dem nachfolgenden Subjekt des Satzes liegt, wird dieses mit um so größerer Wahrscheinlichkeit gestottert.
Welch wichtige Rolle die Aufmerksamkeit bei der Frage spielt, ob Stottern am Satzanfang auftritt oder nicht, zeigt ein Experiment, bei dem erwachsene Stotterer zwanzig kurze Sätze der Form A wie z.B. „Sie lernte schwimmen“ und zwanzig lange Sätze der Form A+B wie „Sie lernte schwimmen im klaren Wasser des Sees.“ laut lasen. Es wurden nur jeweils die Teile A untersucht. Überraschenderweise traten beim Lesen der langen Sätze nur 35% der Stotter-Ereignisse am Anfang auf, also in unserem Beispiel in „Sie lernte“. Dagegen traten 65% der Stotter-Ereignisse am Ende des Teiles A auf, also im gegebenen Beispiel bei „schwimmen“ [12]. Wahrscheinlich ist zu diesem Zeitpunkt die Aufmerksamkeit bereits zum Teil B vorausgeeilt.
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Wendell Johnson und seine Mitarbeiter fanden, dass bei 96 % der Wörter, bei denen Stottern erwartet wurde, auch Stottern auftrat, und dass fast 94 % aller Stotterereignisse an den Stellen auftraten, an denen Stottern erwartet worden war [5]. Diese Resultate wurden in späteren Untersuchungen weitgehend bestätigt [6]. Es ist allerdings nicht erhöhte Muskelanspannung infolge der Erwartung von Schwierigkeiten, wie Bloodstein meinte, was zum Stottern führt (erhöhte Muskelanspannung dürfte allenfalls die Schwere der Symptome erhöhen); vielmehr zieht die Erwartung von Stottern die Aufmerksamkeit des Sprechers vorzeitig auf das „gefährliche“ Wort – beim spontanen Sprechen würde er dieses Wort vielleicht substituieren oder sich bemühen, dessen Anfang besonders sorgsam zu artikulieren. Die Folge ist wieder, dass das Ende des vorangegangenen Wortes vom Monitor nicht wahrgenommen wird.
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Die meisten Verprecher bei Leuten mit ansonsten guter Sprachbeherrschung scheinen dadurch zu entstehen, dass ähnlich klingende Wörter verwechselt werden, d.h. Wörter mit gleichen oder ähnlichen Anfangslauten und ähnlichen Anfanssilben, und dementsprechend passieren die Versprecher meist am Wortanfang. Zungenbrecher werden deshalb in der Weise konstruiert, dass man möglichst viele Wörter mit gleichen oder ähnlichen Anfangslauten oder Anfangssilben aneinanderreiht, z.B.:
Mehr Zungenbrecher siehe z.B. hier.
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