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Was sind die Ursachen des Stotterns?

Seit mehr als 100 Jahren wird Stottern wissenschaftlich erforscht, doch die Ursachen sind immer noch unklar. Das heißt, es gibt keine allgemein anerkannte Theorie über den Mechanismus im Gehirn, der dem Stottern zugrunde liegt. Eine solche Theorie stelle ich auf dieser Website vor. Sie betrifft nur das sogenannte idiopathische Stottern, das meist im Kindesalter erstmalig auftritt – frühestens dann, wenn die Kinder beginnen, Sätze zu bilden – und das bei der Mehrzahl (ca. 80%) der betroffenen Kinder von selbst wieder verschwindet. Bei einigen (häufiger bei Jungen als bei Mädchen) bleibt die Störung jedoch lebenslang bestehen. Etwa 1% aller Erwachsenen stottert.

Es geht hier also nicht um das sogenannte neurogene Stottern, das manchmal als Folge eines Schlaganfalls oder einer Gehirnverletzung durch Unfall auftritt. Die Symptome des neurogenen Stotterns unterscheiden sich deutlich von denen des „normalen“ (idiopathischen) Stotterns – es treten z.B. keine Blocks auf, und es kommt nicht zu der für das idiopathische Stottern typischen Anspannung.

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich schreibe „Stotterer“ und nicht „Stotternde“ oder „stotternde Menschen“. Die meisten Stotterer sprechen die meiste Zeit ohne zu stottern – sie sind also meistens „nichtstotternd“, und ein Stotterer, der erfolgreich eine Therapie absolviert hat, stottert vielleicht gar nicht mehr. Trotzdem bleibt er ein Stotterer – jemand, der eine Veranlagung zu dieser Störung hat, und bei dem sie leicht wieder auftreten kann.

Dank der neuen technischen Möglichkeiten in der Hirnforschung wissen wir inzwischen viel darüber, was in den Gehirnen von Stotterern anders ist als in den Gehirnen derer, die nicht stottern. Auch wurden im Erbgut von Familien, in denen Stottern häufig vorkommt, einige Mutationen entdeckt, mit denen die Sprechstörung vermutlich zusammenhängt. Es ist aber noch unklar, warum Menschen mit diesen Abweichungen im Gehirn oder im Erbgut ungewollt Wörter oder Teile von Wörtern wiederholen, Laute dehnen oder ein Wort nicht herausbekommen.

Die Theorie, die ich auf diesen Seiten vorstelle, liefert dafür eine Erklärung. Es ist jedoch wichtig, zu betonen, dass es sich um eine Theorie handelt – um eine Beschreibung, wie es sein kann, nach allem, was wir derzeit wissen. Seit mehr als zehn Jahren studiere ich die Fachliteratur und verfolge die Entwicklung der Forschung. Ich habe Hunderte von Untersuchungsberichten gelesen und gefundem, dass die hier vorgeschlagene Beschreibung der „Stottermechanismus“ mit allen relevanten Forschungsergebnissen vereinbar ist und von vielen gestützt wird.

 

Was ist neu?

Meine Stottertheorie ist nun auch in einer wissenschaftlichen Zeitschrit veröffentlicht, im Journal of Medical Hypotheses, unter dem Titel: "Developmental stuttering may be caused by insufficient processing of auditory feedback" (auf deutsch: Stottern könnte durch unzureichende Verarbeitung der Hör-Rückmeldung verursacht sein). Der Artikel ist frei zugänglich

September 2024
Diese Website ist nun schon fast zehn Jahre alt, und ich habe begonnen, sie zu aktualisieren. Das wird einige Monate in Anspruch nehmen. Es wird sich also immer mal etwas ändern, und vielleicht wird der eine oder Link zeitweise nicht funktionieren. Dafür bitte ich um Verständnis.



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Zusammenfassung der Theorie

Unmittelbarer Auslöser der Stottersymptome sind Stop-Signale, die vom Kleinhirn ausgehen und eine aktionshemmende Reaktion der Basalganglien auslösen. Dadurch wird das Weitersprechen blockiert. Welche Art von Stottersymptom (Wiederholung, Dehnung, stummer Block) auftritt, hängt davon ab, mit welchen Lauten die betroffene Silbe beginnt, und mit wieviel Anspannung der Sprecher auf die Blockierung reagiert.

Ursache der Stop-Signale im Gehirn sind falsche Fehlermeldungen im Monitoring-System, also in dem Netzwerk, das für die automatische, meist unbewusste Selbstkontrolle des Sprechens zuständig ist. Falsche Fehlermeldung heißt: Das Netzwerk „glaubt“, ein Wort sei unvollständig oder falsch gesprochen worden, obwohl der Sprecher in Wahrheit keinen Fehler gemacht hat.

Die falschen Fehlermeldungen treten auf, weil die Aufmerksamkeit während des Sprechens falsch verteilt ist: Es ist zu wenig Aufmerksamkeit – und damit zu wenig Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazität – auf das Hören gerichtet. Dadurch wird die Hör-Rückmeldung des Sprechens mangelhaft verarbeitet. Das Gehirn bekommt unvollständige oder falsche Informationen darüber, was gesagt wurde. Zwar hat das Gehirnr die Erinnerung daran, was zu sagen beabsichtigt war, doch was tatsächlich gesagt wurde (einschließlich Versprecher), erfährt es vor allem durch das Hören.

Stottern tritt also deshalb auf, weil die Person beim Sprechen nicht ausreichend auf ihre Stimme hört. Das heißt nicht, dass normale Sprecher bewusst auf ihre Stimme hören – ihre Aufmerksamkeit verteilt sich einfach automatisch so, dass die Hör-Rückmeldung immer korrekt verarbeitet und in die Sprechsteuerung einbezogen wird. Das ist bei Stotterern nicht der Fall.


Stottern, Ursachen, Theorie: Stottern versus Sprechfehler-Korrektur

Die Abbildung zeigt den Kern der Theorie: Sprechfehlerkorrektur (links) und Stottern (rechts) basieren auf demselben Mechanismus; der automatische Kontrolleur (Monitor, im Kreis), der die Hör-Erwartung mit der Hör-Rückmeldung vergleicht, verhält sich in beiden Fällen gleich. MIR = Main Interruption Rule (siehe Abschnitt 2.1).


 Stottern, Ursachen; Kausalkette

Die Ursachenkette für ein primäres Stottersymptom. Die Kette schließt sich zum Teufelskreis, wenn die Erfahrung des Stotterns zur Stotter-Erwartung und zur Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Störung führt (Abbildung unten). Dadurch wird die Aufmerksamkeit noch stärker vom Hören abgelenkt und stattdessen auf die Sprechplanung oder die willentliche Kontrolle der Sprechbewegungen gerichtet.


 Stottern, Ursachen: Teufelskreis, Sekundärsymptome

Der Teufelskreis des chronischen Stotterns und die verstärkende Wirkung einiger Sekundärsymptome. Die entscheidenden Teile des Teufelskreises sind der Fokus auf dem Stottern und die daraus resultierende Fehlsteuerung der Aufmerksamkeit, und gerade diese wird durch einige Sekundärsymptome verstärkt.


 Stottern, Ursachen: physische Veranlagung, psychische Faktoren

Der Einfluss von Faktoren, die vermutlich eine physische Veranlagung für Stottern begünstigen, und der Einfluss psychischer Faktoren. Die Schnittstelle zwischen den Einflussfaktoren und dem eigentlichen „Stottermechanismus“ ist wieder die Steuerung der Aufmerksamkeit. Aus Darstellungsgründen ist der „Teufelskreis“ gegenüber der oberen Abbildung gedreht.

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Nachweise für die Richtigkeit der Theorie

Damit eine Theorie überprüfbar ist, sollte sie Voraussagen machen, die experimentell getestet werden können. Die hier vorgestellte Theorie sagt voraus, dass Stottern weniger wird, wenn man beim Sprechen auf seine Stimme hört. Diese Voraussage wurde 2021 in einer Untersuchung an der Universität von Sao Paulo (Fiorin et al., 2021) bestätigt. Das Diagramm zeigt die Häufigkeit des Stotterns bei natürlicher Hör-Rückmeldung und verschiedenen Arten künstlich veränderter Hör-Rückmeldung, die erfahrungsgemäß das Stottern vermindern.


 Stottern, Ursachen: Diagramm aus Fiorin et al. (2021)

Das Diagramm entspricht hinsichtlich der Daten dem in Fiorin et al. (2021). SLD = stuttering-like disfluencies (prozentualer Anteil gestotterter Silben an der Gesamtzahl der gesprochenen Silben)

Am wenigsten wurde gestottert, wenn die Hör-Rückmeldung verstärkt wurde, sodass die eigene Stimme (im Kopfhörer) ungewohnt laut gehört wurde. Das hat zweifellos die Aufmerksamkeit auf die eigene Stimme erhöht (und nicht etwa vermindert, wie für veränderte Hör-Rückmeldung oft fälschlich angenommen worden ist; siehe Abschnitt 4.1). Durch die erhöhte Aufmerksamkeit auf die eigene Stimme wurde die Rückmelde-Information besser verarbeitet und das Stottern vermindert.

Die Theorie sagt außerdem voraus, dass bei Menschen, die nicht stottern, die Aufmerksamkeit automatisch so verteilt ist, dass die Hör-Rückmeldung korrekt verarbeitet und in die Steuerung des Sprechens einbezogen wird. Mit anderen Worten: Nichtstotterer können, im Unterschied zu Stotterern, ihre Hör-Rückmeldung nicht ignorieren. Dies wurde in einem Experiment bestätigt, das an der Universität von Montreal (Kanada) durchgeführt wurde; siehe Orpella et al. (2024). In dem Experiment wurde die Aufmerksamkeit auf die Hör-Rückmeldung zwar nicht beim Sprechen, sondern beim Klopfen eines Rhythmus mit dem Finger getestet – aber auch die Autoren der Studie gehen davon aus, dass die Ergebnisse auf das Sprechen übertragbar sind.


Empfehlungen für Betroffene

Diese Website richtet sich vor allem an Fachleute. Aus der vorgestellten Theorie über die Ursachen des Stotterns lassen sich jedoch Konsequenzen für den Umgang mit der Störung ableiten. Auf dieser Grundlage habe ich Empfehlungen für Betroffene und für Eltern stotternder Kinder formuliert. Dabei handelt es sich nicht um neue Methoden, sondern um solche, die seit langem bewährt sind und die sowohl in Selbsthilfe-Seminaren als auch von professionellen Therapeuten angewandt werden. Neu ist allenfalls die Kombination der Methoden und der Schwerpunkt auf dem Hören der eigenen Stimme. Siehe „Selbsthilfe“.

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