logo Stottertheorie.de



 

Gelöschte Teile des ehemaligen Abschnitts 5.4

Betrachten wir zuerst die ventrale Faserbahn, zu der die Fasern des ECFS gehören, also jenes Faserbündel, in dem bei stotternden Vorschulkindern strukturelle Defizite entdeckt worden sind (siehe Abschnitt 5.2.). Bei chronisch stotternden größeren Kindern und Erwachsenen wurden jedoch keine strukturellen Defizite in der verntralen Faserbahn gefunden. Es sieht also so aus, als stünden die Defizite in der ventralen Bahn nur im Zusammenhang mit dem frühen „Entwicklungsstottern“. Sie scheinen dann irgendwann zu verschwinden – wann genau, ist noch unklar. Außerdem verschwindet bei den meisten der betroffenen Kinder auch das Stottern – es liegt also nahe, hier einen Zusammenhang zu vermuten. Doch was für ein Zusammenhang könnte das sein? Wie könnten einerseits der Ausbruch des kindlichen Stotterns mit den Defiziten in der ventralen Faserbahn und andererseits das Verschwinden der Defizite mit dem Verschwinden des Stotterns, also der Spontanremission, zusammenhängen? Und warum wird bei manchen Kindern das Stottern chronisch, obwohl auch bei ihnen die Defizite in der ventralen Bahn verschwinden? Um diese Fragen soll es im Folgenden gehen.

Im Abschnitt 3.2. war ich zu der These gelangt, dass das kindliche Stottern durch die neuen Herausforderungen entsteht, die die Satzplanung beim Übergang zum gebundenen Sprechen mit sich bringt: Das spontane Bilden von Sätzen verlangt eine stärkere Einbindung der auditiven Rückmeldung in die Sprechplanung – und daher eine andere Verteilung der Aufmerksamkeit – als das Sprechen einzelner Wörter oder starrer Phrasen. Dafür wird die lexikalisch-semantische Komponente der auditiven Rückmeldung benötigt: Man muss wissen, welche Wörter, welche Teile der Satzes bereits gesagt sind, denn daraus ergibt sich, welches Wort oder welcher Teil des Satzes als nächstes kommen kann oder muss. Ich hatte bereits im 1. Kapitel begründet, warum dieses Wissen nicht dadurch erlangt wird, dass ein Sprechplan oder die vollführten Sprechbewegungen im Gehirn gespeichert werden, sondern über die auditive Rückmeldung.

Für die inkrementelle Satzplanung müssen die bereits produzierten (und auditiv wahrgenommenen) Teile eines Satzes im Arbeitsgedächtnis so lange aktiv gehalten werden, wie diese Informationen für die Planung der noch fehlenden Satzteile und für das semantische Monitoring benötigt werden – also i.d.R. bis zur Vollendung des Satzes. Wie im vorigen Abschnitt erläutert, ist es dazu notwendig, die Aufmerksamkeit in hinreichendem Maße auf die Wahrnehmung dieser Informationen zu richten. Damit die inkrementelle Satzplanung funktionieren kann, müssen die Kinder also lernen, während des Sprechens auch auf ihre Rede zu hören, anstatt alle Aufmerksamkeit auf den Inhalt der Mitteilung und/oder die Formulierung zu richten.

Wie schon in Abschnitt 3.2. dargelegt, scheint manchen Kindern die Umstellung auf die inkrementelle Sprechplanung schwerzufallen. Sie versuchen, an der bis dahin ausreichenden holistischen Planung festzuhalten. (mehr...) Dadurch kommt es an den Satzanfängen zu einer Fehlverteilung der Aufmerksamkeit zugunsten der Planung und auf Kosten der sensorischen Rückmeldung. Die Folge ist Stottern, das typischerweise an Satzanfängen auftritt, infolge einer Störung der Rückmeldung der Atembewegung: Der Monitor registriert nicht, dass das Einatmen beendet ist, und blockiert den Sprechbeginn (siehe Abschnitt 2.2.).

Durch das Festhalten an der holistischen Sprechplanung wird die lexikalisch-semantische Rückmeldung nicht benötigt, also nicht im Kurzzeitgedächtnis aktiv gehalten, und die dafür „zuständigen“ Fasern der ventralen Faserbahn – dies könnten die Fasern des ECFS sein – werden nicht aktiviert. Dies wiederum könnte eine verzögerte Myelinisierung dieser Fasern zur Folge haben. Man muss hierbei bedenken, dass nicht nur das Sprechen keine angeborene Fähigkeit ist – auch das Netzwerk im Gehirn, das das Sprechen steuert, ist nicht angeboren. Zwar ist das neuronale Netz als solches vorhanden, aber zum Sprechnetzwerk wird es erst dadurch, dass im Zuge des Sprechenlernens die einzelnen Teile nach und nach in die Steuerung des Sprechens einbezogen werden. Das längere Festhalten an der holistischen Sprechplanung führt vermutlich dazu, dass die Fasern des ECFS verspätet in die Sprechsteuerung einbezogen werden.

Wenn diese Überlegungen richtig sind, dann haben die strukturellen Defizite im ECFS nicht unmittelbar mit dem Stottern zu tun. Sie sind weder dessen Ursache noch dessen Folge, sondern die Folge einer anhaltenden Minderaktivierung der Fasern, weil die Kinder verzögert zur inkrementellen Satzplanung übergehen und deshalb die lexikalisch-semantische Komponente der auditiven Rückmeldung nicht einbeziehen, d.h. die Aufmerksamkeit nicht darauf richten und die über die Rückmeldung einlaufenden Informationen nicht im Gedächtnis aktiv halten. Der Zusammenhang ist in der Abbildung dargestellt.

Stottern - Ursachen: Verzögerte Myelinisierung im ECFS und kindliches Entwicklungsstottern

Abbildung: Verzögerte Myelinisierung im ECFS und kindliches „Entwicklungsstottern“ als Folgen des Festhaltens an der holistischen Sprechplanung. Siehe auch Abschnitt 2.2 (Stottern und Atmung) sowie 4.3 (Disposition)
 

Das Festhalten an der holistischen Sprechplanung kann jedoch nicht von Dauer sein, denn je länger die Sätze werden, um so untauglicher wird diese Methode. Alle Kinder, auch die stotternden (sofern nicht zusätzlich eine Sprachentwicklungsstörung vorliegt), lernen mit der Zeit, ihre Sätze inkrementell zu planen und die lexikalisch-semantische Rückmeldung einzubeziehen. Dadurch verringert sich einerseits der Aufmerksamkeitsbedarf an den Satzanfängen und mithin das Stottern an diesen Stellen. Andererseits werden durch die stärkere Einbeziehung der lexikalisch-semantischen Rückmeldung in die Sprechplanung die Fasern des ECFS häufiger aktiviert, was allmählich zu einer verbesserten Myelinisierung führt. Dies wiederum beschleunigt den Zugriff auf die lexikalisch-semantische Rückmeldung, erleichtert dadurch die inkrementelle Satzplanung und lässt sie zur Routine werden.

Die Folge ist, dass die Myelinisierungsdefizite im ECFS bei den stotternden Kindern verschwinden. Bei den meisten – nämlich bei 70 bis 80 % – verschwindet dabei auch das Stottern: Das Missverhältnis zwischen der (geistigen) Sprachentwicklung und der Entwicklung der Sprechfähigkeit ist überwunden. Interessanterweise ist diese Phase nicht selten mit einer vorübergehenden Verlangsamung der Sprachentwicklung verknüpft (siehe Abschnitt 3.2.). Durch die Interpretation der empirischen Befunde über strukturelle Defizite im ECFS im Rahmen der Aufmerksamkeits-Theorie und im Rahmen des oben beschriebenen Modells der Funktionen der dorsalen und ventralen Faserbahn lassen sich also folgende Phänomene im Zusammenhang erklären:

Die Frage ist nun: Warum verschwindet bei manchen Kindern das Stottern nicht, obwohl auch sie zur inkrementellen Satzplanung übergehen? Ich vermute, dass sich bei diesen Kindern die Fehlverteilung der Aufmerksamkeit verfestigt, und damit die Häufigkeit von Störungen der auditiven Rückmeldung, der Hauptursache des chronischen Stotterns Die Gründe dafür scheinen eine Störung in der automatischen Steuerung der Aufmerksamkeit, in der zentral-auditiven Verarbeitung und/oder eine Neigung zu Hyperaktivität oder Impulsivität zu sein (siehe auch Abschnitt 4.3 über die Prädisposition zum Stottern). Insbesondere die Resultate der folgenden Untersuchung sprechen für die These, dass die Entscheidung, ob Stottern chronsich wird oder nicht, maßgeblich durch die Veranlagung bestimmt ist:

In einer umfangreichen Langzeitstudie an der Universität von Michigan [10] wurde die Entwicklung der weißen Hirnmasse bei stotternden Kindern im Alter zwischen 3 und 12 Jahren untersucht. Dabei

Eine Frage muss noch erörtert werden: Warum remittieren viel mehr Mädchen vom Stottern als Jungen? Einen Hinweis geben die Resultate der schon im Abschnitt 5.2. erwähnten Studie von Chang und Zhu: Neben der strukturellen Integrität der weißen Fasern wurde bei stotternden und nicht stotternden Vorschulkindern die funktionelle Konnektivität verschiedener Teile des Sprechnetzwerkes untersucht, d.h. es wurde ermittelt, wie stark jeweils zwei ausgewählte Teilbereiche des Netzwerks zeitlich verknüpft aktiviert waren oder, vereinfacht gesagt, wie intensiv sie „miteinander kommunizieren“. Dabei zeigte sich, dass zwischen dem pSTG und IFG – also zwischen Sprachwahrnehmung und Sprechsteuerung – die Konnektivität bei den stotternden Jungen (als Gruppe) geringer war als bei ihren nicht stotternden Altersgenossen. Bei den stotternden Mädchen wurde dieses Defizit nicht festgestellt [4].

Da die Konnektivität zwischen den beiden Arealen sowohl durch die dorsale als auch durch die ventrale Faserbahn hergestellt wird, kann der Konnektivitätsunterschied zwischen Mädchen und Jungen zweierlei bedeuten: Entweder ist die bessere Konnektivität ein Zeichen dafür, dass viele der stotternden Mädchen inzwischen gelernt hatten, die lexikalisch-semantische Rückmeldung stärker in die Sprechplanung einzu beziehen – allerdings stellt sich dann die Frage, warum diese Mädchen noch stotterten. Oder bei einigen der Jungen war bereits die Einbeziehung der phonologischen Rückmeldung über den SLF gestört, wie ich es für das chronische Stottern annehme Jedenfalls vermutet auch Soo-Eun Chang, dass die durchschnittlich bessere Konnektivität zwischen pSTG und IFG bei den stotternden Mädchen „Zeichen eines erhöhten Potentials für eine spätere Remission sein könnte.“ [5]  (mehr...) 
 .

 nach oben 


Fußnoten

Übergang zur inkrementellen Satzplanung

Es gibt empirische Hinweise darauf, dass die Sprechplanung stotternder Kinder sich tatsächlich von der nichtstotternder Kinder unterscheidet. In Bildbenennungs-Experimenten ist gezeigt worden, dass fünfjährige stotternde Kinder beim Abrufen kurzer Wörter eher holistisch vorgehen (das Wort als Ganzes abrufen), während gleichaltrige nicht stotternde Kinder eher inkrementell vorgehen (das Wort mit dem Anfang beginnend abrufen) [6].

Daraus lässt sich nicht unmittelbar auf die Satzplanung schließen, doch muss man bedenken, dass Kategorien wie Silbe, Wort, Phrase und Satz für das Gehirn vermutlich keine Rolle spielen: Maßgeblich dürfte sein, wie häufig eine Sprecheinheit produziert wird. Wird sie häufig produziert (das kann auch bei einem Satz der Fall sein),dann gibt es ein motorisches Programm dafür. Wird die Einheit selten oder erstmalig produziert (das kann auch bei einem Wort der Fall sein), dann muss eine Sequenz aus den Programmen der Untereinheiten gebildet werden. Es wäre sehr natürlich, wenn Kinder beim Übergang zum Satzsprechen zunächst versuchten, kurze Sätze genau wie geläufige Wörter oder Phrasen zu produzieren – nämlich holistisch.

In einer anderen Untersuchung [7] zeigte sich, dass nichtstotternde Kinder (als Gruppe) mehr Satzfragmente produzierten als stotternde Kinder. Das kann man als Zeichen dafür nehmen, dass die nichtstotternden Kinder bereits intensiv dabei waren zu lernen, Sätze inkrementell, also Stück für Stück zu bilden. Am Anfang gelingt das offenbar nicht immer, und es entstehen Satzfragmente. Die stotternden Kinder (als Gruppe) produzierten dagegen nur halb so viele Fragmente, machten aber doppelt so viele grammatische Fehler. Das deutet darauf hin, dass die stotternden Kinder sich stärker bemühten, in kompletten Sätzen zu sprechen, ihre Fähigkeit zur Sprechplanung damit jedoch überforderten.  (zurück) 
 

Neue Erkenntnisse (2015)

Eine neue Studie von Soo-Eun Chang und Kollegen brachte weitere Erkenntnisse: Bereits in der Studie von Chang und Zhu aus dem Jahr 2013 war bei jüngeren stotternden Kindern (als Gruppe) ein strukturelles Defizit in der ventralen Faserbahn (im E CFS) gefunden worden (siehe Abschnitt 5.2.). In einer 2015 veröffentlichten Folgestudie [8] wurde festgestellt, dass im ECFS und in weißen Fasern unter dem Gyrus supramarginalis ein negativer Zusammenhang zwischen verminderter Faserdichte und Stotterschwere besteht – also: Je geringer die Faserdichte, um so schwerer das Stottern und um so höher die Stotterfrequenz. Dieser Zusammenhang wurde noch in einigen anderen Hirnregionen gefunden, aber das Besondere in den beiden genannten Regionen war: Nur hier galt der Zusammenhang für stotternde Jungen und Mädchen in gleicher Weise; im Falle des ECFS war der Zusammenhang bei den Mädchen sogar deutlicher. Das ist ein Indiz dafür, dass die verminderte Faserdichte in diesen beiden Regionen tatsächlich eng mit dem Ausbruch des Stotterns im Zusammenhang steht, denn die Wahrscheinlichkeit dafür ist bei Mädchen und Jungen annähernd gleich groß.

Die verminderte Faserdichte im ECFS / der ventralen Faserbahn ist, wie oben erklärt, vermutlich die Folge holistischer Sprechplanung. Dies scheint also für die meisten Mädchen der entscheidende stottertreibende Faktor zu sein, während bei vielen Jungen noch andere Faktoren, (Hyperaktivität und/oder die Neigung zur Überfokussierung der Aufmerksamkeit) eine Rolle spielen dürften. Da die holistische Satzplanung schließlich von allen Kindern überwunden wird, fällt für die meisten Mädchen der entscheidende stottertreibende Faktor weg, und das Stottern verschwindet. Dies würde die größere Wahrscheinlichkeit der spontanen Remission bei den Mädchen erklären.

Der Gyrus supramarginalis, die zweite Region, in der ein negativer Zusammenhang zwischen Stotterschwere und Faserdichte bei Mädchen und Jungen in gleicher Weise festgestellt wurde, spielt eine Rolle bei der Integration der somatosensorischen und taktilen Rückmeldung von Artikulation, Atmung und Stimmgebung [9], Möglicherweise ist die verminderte Faserdichte in dieser Region Ausdruck der zu unzureichenden Einbeziehung der sensorischen Rückmeldung der Atmung, die ich als Ursache für das kindliche Stottern am Anfang von Sätzen und Äußerungen annehme (siehe Abb. 17 im Haupttext).  (zurück) 

 nach oben 

Quellen

  1. siehe z.B. Friederici (2012), Hickok & Poeppel (2007), Rijntjes et al. (2012), Ben Shalom & Poeppel (2008)
  2. siehe z.B. Duffau, Herbet, & Moritz-Grasser (2013), Lau, Phillips, & Poeppel (2008), Rauschecker & Scott (2009)
  3. Howell & Davis (2011)
  4. Chang & Zhu (2013); siehe auch Chang (2014)
  5. Chang (2014), S. 76
  6. Byrd, Conture & Ohde (2007)
  7. Bernstein Ratner: Psycholinguistics of Stuttering  Folie 15
  8. Chang et al. (2015)
  9. Simonyan & Horwitz (2011)

 zum Literaturverzeichnis